VII. Das aktive Leben

 

 

 

1. Arbeit

 

 

Mutter Teresa:

 

Die Arbeit hat Mutter Teresas Leben immer geprägt.

Schon als kleines Kind gab es für sie, die in einem armen Land und einer armen Familie aufwuchs, viele Dienste zu verrichten. Von früh an erwarb sich das Mädchen so die beeindruckende Zähigkeit und Ausdauer, die für sie später als Mutter Teresa kennzeichnend werden sollte. Die Menschen ihrer bäuerlichen Umgebung waren Strapazen gewöhnt und nahmen sie in Gleichmut an.

 

Auch im Mädchenpensionat der Loretoschwestern in Kalkutta fiel Mutter Teresa durch ihren  großen Fleiß und ihre Ausdauer auf. In ihrer feudalen Umgebung versuchte sie sich mit großem Eifer ihren Schülerinnen zu widmen und ihnen die Freude an der Arbeit zu vermitteln.

 

Der entscheidende Schritt aus dem komfortablen Kloster mit allen seinen Annehmlichkeiten mitten hinein in die Slums von Kalkutta konnte ihr mit Gottes Hilfe nur deshalb gelingen, weil sie lange harte Arbeit gewohnt war und über eine außergewöhnliche körperliche Konstitution verfügte. Im Kloster hatte sie jahrelang eine innere Unruhe gespürt, die genau im Gegensatz zu ihren dortigen nach außen hin abgesicherten Lebensverhältnissen stand. 

Die Frage nach Gottes eigentlichem Auftrag für sie beschäftigte Mutter Teresa immer mehr und ihre wahre Ruhe fand sie in dem rastlosen, anstrengenden Einsatz für die Ärmsten der Armen.

 

Vom 10. September 1946, dem Tag ihrer Berufung in der Berufung, bis zum 2. Juni 1983, dem Tag einer schwereren Verletzung am Fuß in Rom war sie ohne eine einzige Ruhezeit ununterbrochen tätig.

Nur der Papst selbst konnte sie damals zu einer Pause von einem Monat  mit den Worten bewegen: „Die ganze Welt braucht Sie. Also gehen Sie bitte ins Krankenhaus und ruhen Sie sich aus.“ [148]

 

Ihr überragendes Beispiel war natürlich auch ein ständiger Ansporn für ihre Schwestern, doch wie schon im Abschnitt über die Kontemplation erwähnt, entsprang diese unbändige Ausdauer der Ordensmitglieder und ihrer Gründerin in aller

erster Linie der tiefen Verbundenheit mit dem Herrn im Gebet, Wort und Sakrament.

 

Die Arbeit der Missionarinnen der Nächstenliebe ist heute sehr vielfältig und kann in folgende Bereiche unterteilt werden:

  

Apostolische Arbeit:

Sonntagsschulen, Bibelgruppen, katholische Aktionsgruppen und deren Besuche in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Gefängnissen.

 

Medizinische Arbeit.

Apotheken, Leprakliniken, Rehabilitationszentren für Leprakranke, Heime für verlassene Kinder, physisch und geistig behinderte Kinder, kranke und sterbende Notleidende, Aids-Patienten, Tbc- Patienten, Zentren für Unterernährte und mobile Kliniken.

 

Bildungsarbeit:

Grundschulen in den Slums, Nähkurse, kaufmännische Kurse, kunsthandwerkliche Kurse, Vorschulprogramme und Weiterbildung nach der Schule in den Dörfern.

 

Soziale Arbeit:

Fürsorge und Bildungsprogramme für Kinder, Tageskrippen, Heime für Obdachlose, Alkoholiker und Drogenabhängige, Heime für ledige Mütter, Nachtasyle und Zentren für natürliche Geburtenplanung.

 

Hilfsdienste:

Nahrungsmittel und Kleider, Trockenrationen, warmes Essen und Notdienst für Familien.

 

So hat der tiefe Glaube einer einzigen Frau, der auch in der täglichen Arbeit für Gott und die Menschen seinen Ausdruck fand, buchstäblich die Welt verändert.

Die alte Tugend des Fleißes übersetzte Mutter Teresa in unsere oft bequemliche Welt, die Rückbindung der Arbeit an den Schöpfer aller Dinge gab jener den richtigen Stellenwert in unserer oft zur Arbeitssucht neigenden Welt.  

 

 

„Wenn die Schwestern zu Hause arbeiten, müssen sie fleißig sein, ob sie nun auf dem Feld arbeiten oder etwas für den Verkauf herstellen.

Denn auch Jesus arbeitete für seine Mutter. Er war wirklich ein Arbeiter. Er war bekannt als der Sohn des Zimmermanns. Ohne Widerwillen und ohne am Willen Gottes zu zweifeln, führte er fast zwanzig Jahre lang ein Leben harter Arbeit, obwohl er doch gekommen war, um die Menschen zu Gott zu führen.“ [149]

 

„Indien braucht eine Entwicklung in Technik, Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin.

Planung und Organisation sind notwendig.

Doch was kann man anderes tun, als darauf zu hoffen?  Ich weiß es nicht.

Zuerst müssen die Menschen leben. Man muss ihnen Essen, Wohnung und Kleidung geben.

Solange es dieses gegenwärtige Indien gibt, bleibt unsere Arbeit nützlich und nötig.“ [150]

 

 

 

 Frère Roger:

 

In Frère Rogers Leben gab es ein ständiges Miteinander und Ineinander von geistiger und körperlicher Arbeit.

Seine Kinder - und Jugendzeit war wohl nicht so von schwerer Arbeit geprägt wie die Mutter

Teresas und doch hatte jedes der neun Kinder seinen selbstverständlichen Beitrag zu den Aufgaben der Familie zu leisten.

Als Mitbegründer einer christlichen Studentengruppe kamen ihm vielerlei Verpflichtungen zu, und seine Studien sowie die Abfassung einer Doktorarbeit verlangten die Bewältigung einer Menge geistiger Arbeit. 

 

Ganz auf seiner eigenen Hände Arbeit angewiesen war Frère Roger aber erst mit dem Zeitpunkt seiner Übersiedlung nach Taizé. Um seinen und den Lebensunterhalt der zahlreichen Flüchtlinge, die er in sein Haus aufnahm, zu sichern bestellte er die kleine Landwirtschaft, die zu dem Haus gehörte, molk die einzige Kuh und sammelte Brennnesselblätter als Suppeneinlage.

 

Die Communauté behielt diesen Stil der Selbstversorgung bei, und bis heute hat sich der Grundsatz gehalten und bewährt, dass die Brüder nur von den Verdiensten ihrer eigenen Arbeit leben. Viele haben ihre Berufe behalten und üben sie in etwas eingeschränkter Form aus.

So gibt es Ärzte, Computerspezialisten, Rechtsberater, Setzer, Drucker, Sozialarbeiter, Psychologen, Buchillustratoren, Landwirte, Handwerker, Grafiker und viele andere Professionen.

 

Der alte Mohnaastische Grundsatz des „ora et labora“ wurde auf diese Weise bewahrt und um die interessante Dimension erweitert, dass die Arbeit mitten in der Welt ausgeübt wird.

Wenn dieses Tätigsein wie im Fall der Brüder von Taizé vom Gebet getragen ist, dann trägt es auf wundersame Weise zur Heiligung eben dieser einen Welt bei.

 

 

 

2. Kampf

 

 

Mutter Teresa:

 

Wenn man sich die Einsatzfreude und die Beharrlichkeit als zwei typische Eigenschaften Mutter Teresas vergegenwärtigt, kann man leicht verstehen, dass gerade der Kampf in allen seinen Dimensionen ganz wesentlich zu ihrem Leben gehörte.

 

Die unscheinbare kleine Nonne war von Gott mit erstaunlichen Gaben beschenkt worden, die sie in vielerlei geistlichen und weltlichen Kämpfen auf kluge Weise und mit großem persönlichen Einsatz gebrauchte. Ihre Demut schaffte Raum für Gottes Wirken, ihre Ausdauer ließ viele ihrer Gegner schlussendlich aufgeben, und ihre Liebe bezwang so manches erstarrtes Menschenherz.

 

Mutter Teresas christlicher Kampf für die Ehre des Herrn und die Würde des Menschen hat das Leben unzähliger Menschen verwandelt und sie als treue Braut des gekreuzigten Siegers über Sünde und Tod erwiesen.  

 

„Je mehr uns eine Arbeit widerstrebt, desto größer sollte unser Glaube sein und desto freudiger unsere Hingabe. Das Gefühl des Widerwillens ist zwar natürlich, aber aus Liebe zu Jesus können wir es in heroischer Weise überwinden.

Im Leben der Heiligen war oft die heldenhafte Überwindung des Widerwillens der Schlüssel zu ihrer großen Heiligkeit. So war es bei Franz von Assisi:

Als er einem Leprakranken begegnete, wandte er sich zunächst ab. Doch dann überwand er sich und küsste das schrecklich entstellte Gesicht. Daraufhin wurde Franziskus von einer unsagbaren Freude erfüllt. Er wurde ganz Herr seiner selbst, und der Leprakranke ging fort und pries Gott für seine Heilung.“ [151]

 

 

 

Frère Roger:

 

Es kann hier zum Großteil an das im Abschnitt über die Kontemplation Gesagte angeschlossen und dieses um einige Gedanken ergänzt werden.  

 

In Frère Rogers Schriften ist häufig ganz ausdrücklich vom Kampf die Rede, aber immer gelingt es ihm, diesen unersetzbaren Bestandteil des christlichen Lebens in einem sehr weiten Zusammenhang zu sehen. Kampf ist niemals Selbstzweck, Kampf ist immer auf die gegenseitige Ergänzung durch die Kontemplation angewiesen, und Kampf im christlichen Sinn kann nach Frère Roger nur gewaltfrei geschehen.

 

Der Einsatz in der Welt, der Kampf gegen innere und äußere Widerstände, ist eine tägliche Aufgabe für jeden Christen, dessen Herr der ist, der in eben diese selbe Welt gekommen ist.

 

 

„Wie kann man im Kampf an der Seite der unterdrückten Menschen sein ganzes Leben einsetzen und das Risiko wagen, es um der Liebe willen zu verlieren, wenn man nicht unaufhörlich aus den christlichen Quellen schöpft und trinkt? Nur so kommt die Schöpferkraft Gottes im Menschen zur Wirkung.

Wenn er sich auf ein inneres Abenteuer mit dem Auferstandenen einlässt, Schritt für Schritt, in einem brennenden Kampf für die Gerechtigkeit, dann nimmt er teil am Marsch des Menschen und der Menschheit, die als Ziel die Befreiung von der Unterdrückung hat.“ [152]

 

„Nicht Kampf oder Kontemplation, sondern das eine mit dem andern zusammen, das eine als Quelle des andern. Dieser Radikalismus des Evangeliums fordert zu viel, als dass du jene verurteilen könntest, die nicht begreifen.

Las dich nicht lähmen, weil man dich nicht versteht. Von dir ist das Wagnis deines Lebens gefordert.“ [153]

„Jeden Tag neuer Kampf: das weiß jeder Mensch, der aktiv Stellung bezogen hat. Ohne das gibt es kein Weiterkommen. Doch für alle erneuert sich ständig bis zum Tod eine Fähigkeit, sich zu entscheiden.  Die Kraft des Willens wird ständig neu geboren; ihre Quellen sind unerschöpflich und ungeahnt.“[154]

 

 

 

 

3. Dynamik

 

 

Mutter Teresa:

 

Ganz im Sinne des Bewahrens und Voranschreitens war das Leben Mutter Teresas von einer erstaunlichen Dynamik geprägt.  Ihr Tag begann und endete mit einer Stunde der eucharistischen Anbetung, und dazwischen lag eine Arbeitszeit, in der in atemberaubenden Tempo das aktive Leben verwirklicht wurde.

Dabei wurde das öffentliche Wirken Jesu gegenwärtig, der auch frühmorgens und spätabends im Gebet zubrachte und dazwischen ein erstaunlich vielseitiges und anstrengendes Arbeitspensum erfüllte. Das christliche Leben ist und bleibt Nachfolge dieses Jesus, der auch heute als der Auferstandene derselbe ist wie damals (vgl. Hebr 13,8) und die Dynamik des Gebets durchdringt die Dynamik des Tuns.

Die Kirche als das pilgernde Gottesvolk darf daher stets neu auf den Ruf ihres Herrn zum Aufbruch hören und von Neubeginn zu Neubeginn voranschreiten.

 

 

 

Frère Roger:

 

Ein wichtiger Aspekt der Spiritualität Frère Rogers ist die Dynamik.

Das gemeinsame Suchen nach dem richtigen Weg prägt die Communauté von Anfang an.

In Taizé ist nichts fertig - die Regel, die Kirche, die Formen des Gottesdienstes, alles ist ein großes Provisorium, vieles ist spontan, mit einem weiten Spielraum für individuelle Begabung und schöpferische Phantasie.

 

Die größte Gefahr sieht der Prior darin, sich selbst zu genügen und den Deckel über einem einmal entdeckten Schatz wieder zu schließen. Man verwende dann alle Kräfte darauf, den gewachsenen Strukturen Dauer zu verleihen, sich hinter schützende Mauern zurückzuziehen und den Gesichtskreis immer mehr zu verengen.

 

Deshalb löste man beispielsweise in Taizé die Büros für die Organisation auf, als diese begannen, die eigene Arbeit als unentbehrlich zu verherrlichen.

Deshalb vernichten die Brüder regelmäßig am Jahresende alle Statistiken und Dokumente, um sich nicht unnötig mit einem Archiv zu belasten, oder gar eines Tages die eigene Geschichte zu feiern.

 

Außer dem lebenslangen Versprechen und den täglichen gemeinsamen Gebeten gibt es kaum feststehende Einrichtungen im Leben der Communauté. Dieser Lebensstil kommt Frère Roger sehr entgegen, denn er liebt es, alles ganz unmittelbar zu erleben.

 

 

„Gewiss wäre es das Ideale, Entscheidungen nur einmütig zu treffen. Aber der Idealismus ist kein Begriff des Evangeliums.

Wenn man, ehe man weitergeht, warten wollte, bis alle derselben Meinung sind, bliebe die Bruderschaft auf demselben Fleck stehen.

Es ist aber eine Tatsache im Leben: Man muss immer weitergehen.

Wenn man stehen bleiben will, geht man in Wirklichkeit zurück.“  [155]

 

„Wie dann den Übergang finden von einem Provisorium zum anderen Provisorium ?

In Taizé wird das, was uns von anderen unterscheidet, womöglich eines Tages verschwinden müssen.

Unsere Gottesdienste wirken hin auf eine Einmütigkeit im Glauben und nähren eine starke Hoffnung; sie helfen uns, wie am Abend von Emmaus in der Gegenwart dessen zu leben, den unsere Augen nicht zu sehen vermögen.

Und trotzdem, sind unsere gottesdienstlichen Formen nicht ein Provisorium, dazu bestimmt, am Tage der sichtbaren Einheit zu verschwinden?“ [156]

 

„Nur wer Sinn für Kontinuität hat, kann aus der Dynamik des Vorläufigen leben. Enthusiasmus, verstanden als glühender Eifer, ist eine positive Kraft, die jedoch nicht genügt.

Sie verzehrt und erschöpft sich, solange sie ihren Schwung nicht auf eine andere Kraft überträgt, die, tiefer liegend und weniger wahrnehmbar, uns das ganze Leben lang in Bewegung hält.

Die Kontinuität zu wahren ist unerlässlich; denn jedes Leben kennt Zeiten der Monotonie, ist durchzogen von dürren Wüsten. Das Spiel des Wechsels ist eine erfrischende Quelle.“ [157]

 

 

 

4. Einfachheit

 

 

Mutter Teresa:

 

Getreu dem Vorbild ihrer Namenspatronin, der heiligen Thérèse von Lisieux, erkannte Mutter den besonderen Wert des kleinen, einfachen Lebens, das sich insbesondere auch in kleinen, einfachen Arbeiten verwirklicht. Durch die Menschwerdung Gottes in der bescheidenen Person des Jesus von Nazareth ist diese Lebensform ein für allemal geheiligt und hervorgehoben.

 

Das heldenhaft Große, das dem unauffälligen Kleinen zu eigen ist, stellt eine täglich neue Herausforderung für den Christen dar. Insbesondere ist es ein beständiger Prüfstein für die Frage, wessen Ansehen man denn nun wirklich sucht: das Ansehen der Menschen, die nur allzu gerne ausschließlich auf die großen, äußerlichen Dinge achten, oder das Ansehen Gottes, der auch das Verborgene sieht?

Für Mutter Teresa war auch in diesem Bereich ein ganz eigenes Selbstbewusstsein charakteristisch, das gerade den Menschen geschenkt wird, die sich bemühen, durch alle Moden und Trends hindurch der zeitlosen Weisheit Gottes gemäß zu leben.

 

 

„Als mir jemand vorhielt, dass sich die Schwestern hier keinem großen Werk widmen und sich nur mit kleinen, unauffälligen Dingen befassen würden, sagte ich, dass selbst wenn sie auch nur einem einzigen Menschen geholfen hätten, dies ganz in Ordnung wäre.

Jesus wäre auch nur für einen einzigen Menschen, für einen einzigen Sünder, gestorben.“[158]

 

„Ich denke nie an die große Menschenmenge, sondern an den einzelnen. Wenn man an die Masse denkt, würde man gar nicht erst anfangen können. Für mich ist der einzelne wichtig. Ich glaube an die Begegnung Mensch zu Mensch.“ [159]

 

   

Frère Roger:

 

Das eben Gesagte trifft in bezeichnender Weise auch auf Frère Roger zu. Genau wie bei Mutter Teresa ist auch bei ihm die göttliche Ironie zu beachten, dass ausgerechnet ein Mensch, der zuallererst das einfache Leben mit Gott suchte, in unserer komplizierten und oft gottfernen Welt höchste Anerkennung erlangt hat.

 

 

 

5. Versöhnung

 

 

Mutter Teresa:

 

Getreu dem Vorbild Jesu pflegte auch Mutter Teresa ihre Botschaften zu gewissen Themen in der Form von Geschichten zu verkünden.

Sie sprach dabei so unmittelbar aus dem Leben heraus, dass sich jeder ihrer Zuhörer leicht in die jeweilige Situation versetzen und auch selbst angesprochen fühlen konnte. 

Gerade im Bereich der Versöhnung hatte die gütige Nonne so manche schmerzlich - schöne Erfahrung gemacht, die zuallererst als Vorbild für die noch Unversöhnten dienen sollte:

 

„Einmal lasen wir in den Straßen von Kalkutta einen jungen Mann auf.

Nach einiger Zeit fragte ich ihn, warum er seine Eltern verlassen habe.

Er sagte mir, dass sein Vater ihn nicht leiden konnte.

,Seit meiner Kindheit hatte er mir nie mehr in die Augen gesehen. Er wurde eifersüchtig auf mich, und so ging ich von zu Hause fort.’

Die Schwestern beteten viel für den jungen Mann und halfen ihm, nach einiger Zeit wieder nach Hause zu gehen und seinem Vater zu verzeihen: und das hat beiden geholfen.“  [160]

 

 

Die Konflikte in den Familien und zwischen den einzelnen Generationen gingen ihr besonders zu Herzen, doch waren dementsprechend auch die Versöhnungen in diesem so wichtigen Bereich überaus bewegend. Mit welcher Dramatik diese sich oft ereigneten, kann die folgende Geschichte verdeutlichen:

 

„Ich erinnere mich auch, wie ich einmal eine Frau, von der ich wusste, dass sie sterben musste, aus einer Mülltonne herausholte. Ich brachte sie ins Kloster.

Immer wieder sagte sie: ,Mein Sohn hat mir das angetan.’

Sie sagte nicht einmal: ,Ich muss sterben’, ,ich habe Schmerzen’. Sie wiederholte nur immer: ,Mein Sohn hat mir das angetan.’

Es dauerte lange, bis ich ihr helfen konnte zu sagen, bevor sie starb:

,Ich verzeihe meinem Sohn’.“ [161]

 

 

Ihre weltweite Berühmtheit und Anerkennung ermöglichte es Mutter Teresa schließlich, zu den verschiedensten Konfliktpunkten der Erde zu reisen, um sich dort fernab jeder politischen Stellungnahme für die Versöhnung zwischen den einzelnen Menschen einzusetzen:

 

„Ich habe es in Belfast in einigen Familien gesehen, die ich besucht habe, wo ein Mitglied getötet worden ist. Diese Menschen haben verziehen.

Sie hassen diejenigen nicht, die ihr Kind ermordet haben, noch wollen sie sich an ihnen rächen.“ [162]

 

 

 

Frère Roger:

 

Die erste Biographie Frère Rogers trägt den Titel „Ein Leben für die Versöhnung“, und damit ist tatsächlich schon sehr viel ausgesagt. Sein ganzes Leben ist dieser Grundbotschaft des Evangeliums in ihren vielen Dimensionen gewidmet, und die Saat seiner Worte und Taten hat gerade in dieser Hinsicht reiche Frucht hervorgebracht.

Daher soll diesem Thema in seinen vielen Dimensionen ein entsprechender  Platz eingeräumt werden, und der zu diesem Dienst von Gott Berufene besonders ausführlich zu Wort kommen.

 

Die Botschaft des Evangeliums lautet, dass Gott den Menschen in der Person und im Wirken des Jesus von Nazareth auf unüberbietbare Weise nahe gekommen ist, und sie einlädt, die durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes bewirkte Versöhnung anzunehmen.

Dass diese Botschaft in aller Tiefe d i e frohe Botschaft überhaupt ist, soll insbesondere durch die Menschen deutlich werden, die ihr Leben auf diese Realität gegründet haben.

 

„Menschen sind manchmal streng. Gott kommt und hüllt uns in Erbarmen. Niemals, nie und nimmer, quält Gott das Gewissen des Menschen. Er webt unser Leben wie ein schönes Gewand mit den Fäden seines Verzeihens. Er versenkt unsere Vergangenheit ins Herz Christi 

und hat sich unserer Zukunft schon angenommen.

Die Gewissheit der Vergebung ist die unerhörteste, unwahrscheinlichste, weitreichendste Wirklichkeit des Evangeliums. Sie macht unvergleichlich frei.“ [163]

 

Wer sich von Gott geliebt weiß und die Versöhnung durch Jesus Christus annehmen durfte, dem wird auch die Kraft geschenkt, sich selbst und seinem Nächsten zu verzeihen. Das Verzeihen beginnt bei einem selbst, denn nur wer sich selbst verziehen hat, kann auch seinem Nächsten verzeihen:

„Jesus lädt dich nicht zum Rückzug auf dich selbst, sondern zur schlichten Umkehr des Herzens ein. Was ist Umkehr?

Sie ist ein Vertrauensschritt, mit dem du deine Fehler auf ihn wirfst. Und schon bist du entlastet, ja befreit und kannst ohne Umschweife im gegenwärtigen Augenblick leben, niemals entmutigt, weil dir stets verziehen ist.“ [164]

 

Die Versöhnung verlangt  den ganzen guten Willen des Menschen, weil sie immer eine innere Anstrengung und Überwindung bedeutet. Der überaus hohe Lohn, nämlich die Wiedererlangung des friedvollen Lebens, ist andererseits immer auch ein ausreichend großer Anreiz:

„Ist der Aufruf zur Versöhnung etwa eine Einladung zur Passivität, zur Absage an den Kampf?

Nein, das Evangelium führt nie zu angenehmer Ruhe.

Versöhnung mit sich selbst wie mit anderen setzt voraus, dass man Spannungen und Kampf bejaht. Wenn man Krisen vorzeitig abbricht oder ihnen zu entrinnen sucht, sterben Lebenskräfte ab.

Durch Krisen hindurch, sehen, was danach kommt - dieser Weg führt uns weiter.“ [165]

 

Versöhnung sollte immer so bald wie möglich geschehen, und kann durch treue Einübung zu einer überaus segensreichen Gewohnheit werden:

„Tiefgehende Umkehr geschieht, sobald wir im Augenblick Gott die Menschen anvertrauen, die uns verletzt haben, auch dann noch, wenn wir zurückgestoßen oder gedemütigt wurden.

Die Versöhnung ist ein Frühling des Herzens. Wer sich ohne Aufschub versöhnt, macht eine verblüffende Entdeckung: das eigene Herz verändert sich.“ [166]

 

Selbst mit befreundeten und geliebten Menschen bedürfen wir oft der Versöhnung:

„Jede Freundschaft setzt einen inneren Kampf voraus. Und manchmal bringt das Kreuz Licht in die unergründliche Tiefe der Liebe.“ [167]

  

Versöhnung muss aber auch die Feinde einschließen, um wirklich allumfassend zu sein:

„Würden wir nicht auch für unsere Feinde beten, überließen wir einen Teil von uns selbst der Finsternis.“ [168]

 

Besonders schwierig, aber umso notwendiger ist die Versöhnung, wenn der andere auf das Angebot der Versöhnung nicht reagiert oder das eigene Entgegenkommen sogar ausnützt:

„Wie, wenn das Verzeihen auf Ablehnung stößt ?

Die Antwort des Evangeliums lässt kein Zögern zu: wohlmeinende Güte aufbringen ohne Verständnis zu erwarten, verzeihen, auch wenn man nur auf abweisende Kühle trifft. Nicht einmal wissen wollen, was der andere mit dem Verzeihen anstellt.

Wie, wenn das Verzeihen missbraucht wird ?

Die verzeihende Liebe ist nicht blind, sie sieht genau, was vorgeht. Verzeihen bewahrt nicht vor harten Prüfungen, wenn manche berechnend sagen: Ich kann mir alles erlauben, kann sogar diesen oder jenen Menschen brechen, ich weiß ja, dass er mir zum Schluss doch wieder verzeiht.“ [169]

„Jagen sie dich unwirsch davon - welche Entdeckung! - : Du hast sie still innerlich angenommen.

So erstaunlich es klingt - wenn du das Wagnis des Vertrauens eingehst, steigt in dir helle, unbeschwerte Freude auf.“ [170]

 

Ein wichtiges Gebot der Stunde ist natürlich die Versöhnung der Kirchen, denn die Gemeinschaft der Christen muss sich auch auf sichtbare Weise ausdrücken.

Erst dann können sie ihren Auftrag als Sauerteig der Versöhnung der gesamten Menschheit verwirklichen:

„Lichtvolle ökumenische Berufung ist es und wird es immer sein, eine Versöhnung ohne Aufschub zu verwirklichen.

Sich versöhnen heißt, das Evangelium voll und ganz befolgen...und dadurch wird ein Sauerteig des Friedens und der Versöhnung in der ganzen Menschheitsfamilie freigesetzt.“ [171]

 

Unser Verzeihen darf schließlich selbst die Menschen einschließen, die nicht mehr auf der Erde leben:

„Wagst du es, wenn Wunden aus der Vergangenheit wieder aufbrechen, auch denen zu verzeihen, die nicht mehr auf der Erde sind?“ [172]

 

  

 

 

6. Freiheit

 

 

Mutter Teresa:

 

Anders als Frère Roger befasste sich Mutter Teresa nie ausdrücklich mit philosophischen oder theologischen Fragen, sondern gebrauchte nahezu ausschließlich eine sehr einfache Sprache.

Die Freiheit als Fundament des aktiven Lebens wurde daher unausgesprochen vorausgesetzt, aber nicht näher hinterfragt.

 

Für ihr eigenes Leben ist die Tatsache bedeutsam, dass sie als Gründerin und Generaloberin ihres Ordens eine fast uneingeschränkte Freiheit besaß, und gleichzeitig bestrebt war, den Schwestern insofern eine größtmögliche Freiheit zu eröffnen, als sie versuchte, jede nach ihren ganz persönlichen Begabungen einzusetzen. 

 

 

 

Frère Roger:

 

In Frère Rogers Schriften wird die Frage der Freiheit insbesondere im Zusammenhang mit der Frage des Leids und des Übels immer wieder behandelt. In seinen Antwortversuchen steht er dabei fest auf dem Boden der kirchlichen Überlieferung, die den Menschen als das einzige Geschöpf betrachtet, das sich in aller Freiheit für oder gegen seinen Schöpfer und seine Mitgeschöpfe entscheiden kann.

 

Ohne Freiheit vermag der Mensch auf den liebenden Anruf Gottes nicht in Liebe zu antworten, sondern wäre von vornherein zu einem unfreien Automaten degradiert.

Die absolute Freiheit ist aber schlichtweg denkunmöglich, denn man kann nur dann wählen, wenn auch etwas vorgegeben ist.

 

Besonders relevant wird die Frage der Freiheit aber oft erst dann, wenn die Grenzen des jedem Menschen eingeräumten eigenen Spielraums überschritten und der jeweilige Spielraum der anderen Menschen eingeschränkt wird.

Dies bedeutet immer auch eine Entscheidung gegen Gott, der eben diese je persönliche Freiheit allen Menschen geschenkt und dadurch sogar selbst auf einen derartigen Eingriff in Liebe verzichtet hat.

 

In unserer noch nicht vollendeten Welt, die in vielfacher Hinsicht von der Verweigerung des Menschen gegenüber Gott, der Sünde, geprägt ist, wird die Freiheit bekanntermaßen beständig verletzt.

Die Christen, als von Jesus Christus aus der Knechtschaft der Sünde befreite Menschen, sind natürlich ganz besonders dazu aufgerufen, die Freiheit ihrer Mitmenschen zu achten und gegen Verletzungen dieser Freiheit durch andere aufzutreten. 

 

Frère Rogers Einsatz für die Versöhnung war von diesen Fragen natürlich von Anfang an geprägt. Sein Grundanliegen war es auch hierbei, den Menschen einen Zugang zu Gott zu eröffnen, von dem her diese Freiheit ja überhaupt erst  ihren Ausgang nimmt.

Die tiefe Einsicht in die gute und gerechte Ordnung seiner Schöpfung ist die notwendige Voraussetzung für die Annahme derselben und in der Folge dessen ein dieser liebevollen Richtlinie entsprechendes Verhalten.

 

All denen, die die Freiheit ihrer Mitmenschen beharrlich missachten, eben diese Freiheit genauso beharrlich in Erinnerung zu rufen, war eine nahezu gleich wichtige Aufgabe, die Frère Roger zeitlebens mit großer Weisheit erfüllt hat.    

 

 

„ Gott liebt uns unbeschreiblich und lässt uns die Freiheit zu einer radikalen Entscheidung: er stellt es uns frei, zu lieben oder die Liebe zurückzuweisen und Gott abzulehnen.

Gott lässt uns frei wählen und sieht dennoch dem Menschen nicht untätig zu. Er leidet mit ihm. Durch Christus, der für jeden Menschen auf der Erde im Todeskampf liegt, durch seinen Heiligen Geist, der beständig in uns am Werk ist, besucht er uns bis hinein in die Wüste unseres Herzens...“ [173]

 

„Freiheit muss teuer bezahlt werden. Kürzlich wollten uns einige großzügige Männer der Kirche ihre Sympathie bezeugen und boten uns Geld an, um die vielen Reisen von jungen Leuten quer durch die Welt zu bezahlen. Wir haben es vorgezogen, diese Spenden abzulehnen, um unsere Freiheit nicht aufs Spiel zu setzen.“ [174]

 

„Gott will uns als Mitschöpfer. Er willigte in ein unermessliches Risiko ein. Nicht passiv unterworfen wie einen Automat wollte er den Menschen, sondern frei, persönlich über den Sinn seines Lebens zu entscheiden, frei, zu verzeihen oder aber die Vergebung abzulehnen, frei, schöpferisch zu sein oder nicht.“ [175]

 

 

 

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